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Das Haremskonfekt
Um keine Irrtümer aufkommen zu lassen: Nein, die Lübecker haben das Marzipan nicht erfunden. Und ein zweites Mal nein: Es entstand auch nicht während einer Belagerung, als in höchster Not auf einem gottvergessenen Speicher ausgerechnet noch ein paar Säcke Mandeln und Zucker entdeckt wurden. Die Luxusleckerei geboren aus purem Mangel, so hätten sie s am liebsten, die genußsüchtigen Pharisäer aller Zeiten. Und nein, zum dritten Mal: Der Name stammt nicht von „Marcis Panis“ ab, „Markusbrot“, was eine gradlinige Verbindung zu Venedig und seinem Schutzpatron nahegelegt hätte. Die Wahrheit ist, wie immer, ganz anders. Die richtigen Antworten gibt eine Ausstellung im St.-Annen-Museum in Lübeck. „Erfunden“ wurde das Marzipan im Vorderen Orient. Dort wuchsen Mandeln, dort gab es Rosenwasser, dort wurde Zucker aus Indien eingeführt alles, was es braucht, um Marzipan herzustellen: Ein Drittel hiervon, zwei Drittel davon, geschält, gerieben, gemischt, geröstet, geformt fertig war das „Haremskonfekt“, wie Thomas Mann es nannte. Und damit versüßten sich naschhafte Kalifen schon vor tausend und mehr Jahren tausendundeine Nacht. Der Name dagegen stammt aus dem Mittelmeerraum. „Matzapanen“ hießen die Schachteln, in denen kandierte Früchte und Süßigkeiten aus dem Orient nach Venedig geliefert wurden, den Inhalt nannte man bald „Mazaban“. Die Stadt am Lido war die Drehscheibe für die Schätze des Morgenlands. Venedigs Kaufleute brachten erste Marzipanproben, das Rezept und die notwendigen Rohstoffe ins restliche Europa. Ein seltener, ein teurer Stoff, ein Stoff, der die, die ihn zum ersten Mal kosteten, irgendwie an die Freuden des Paradieses gemahnte: Schon bald galt Marzipan als Aphrodisiakum, eine Art mittelalterliches Viagra, wenn auch wohl ohne entsprechende Wirkung. Dann als Kraftnahrung. Schließlich als Herzmittel. Nur Apotheker und Klöster durften Marzipan herstellen. Es schmeckte aber auch zu köstlich. Die Gourmets mit den großen Portemonnaies konnten sich das nicht entgehen lassen. Schon bald zierten Marzipanschwäne und -rosen die Hochzeitstaffeln der Fürsten, Päpste und Kaiser nahmen huldvoll Marzipanbrote entgegen (und bissen hinterher gierig hinein), bei so manchem Leichenschmaus erinnerte ein Marzipansarg auf der Torte an den Dahingegangenen. Bei soviel adliger Naschsucht wollten die Bürger nicht zurückstehen: Mehr Marzipan! Für alle die es bezahlen können! Die Obrigkeit sah es mit Grausen: Welche Verschwendung! Was für eine Völlerei! In vielen Städten Europas versuchte sie, per Dekret den hemmungslosen Verbrauch einzuschränken. So verbot Venedig etwa ausdrücklich das Vergolden von Marzipanfiguren. Vergebens. Die Lüsternheit griff um sich. Der allmählich einsetzende Handel mit Amerika machte Zucker billiger. In Frankreich entstand ein neuer Beruf: der Zuckerbäcker. Einige dieser „Canditoren“ wanderten nach Deutschland aus, an die Höfe. Kneteten Konfekt. Zogen Zukker. Modellierten Marzipan. Anfang des 19. Jahrhunderts dann die Entdeckung: Auch aus Rüben läßt sich Zucker sieden. Orte mit Hafen und großem Hinterland, Zuckerrübenhinterland, machten Punkte. Städte wie Lübeck am Rande Mecklenburgs etwa. Oder Königsberg an der ostpreußischen Küste. In letzterem ließen sich Zuckerbäcker aus dem Engadin nieder, und 1848, wird berichtet, gab es in Königsberg bereits „so viele Konditoreien wie Leipzig Buchhändler hat“. Sie stellten ein ganz besonderes Marzipan her: gefüllte Torten, die mit kandierten Früchten belegt und am Ende von oben abgeflämmt wurden, so daß die gekniffenen Ränder bräunlich schimmerten. Unverwechselbar. Die Lübecker hielten dagegen. Ihr Stoff war feiner, reiner, weniger süß sagten sie. Zur Weihnachtszeit bauten sie große Jahrmarktszenen auf, Ansichten der Stadt, heilige Familien. Aus Marzipan. Zu Tiroler Musik. Es war die große Zeit der Former und ihrer Model, aus Birnenholz geschnitzt, später in Schwefel gegossen. Das mitessende Auge bekam einiges zu verdauen: Einhörner und Füllhörner. Die „Wilde Jagd“ und den „Beschaulichen Spaziergang“. Die jagende Diana wie die plaudernde Suleima fast immer mit entblößter Brust. Das richtige Präsent für die Geschäftsfreunde. Ist schließlich Kunst. Mitte des 19. Jahrhunderts kamen Walz- und Mandelreibmaschinen auf, erste Marzipanfabriken, kleine Klitschen, entstanden. Man erdachte neue Pappschachteln zum Transport und bunte Etiketten zur Verkaufsförderung. Kalorien galten noch nicht als Verkaufshindernis: „Seht den dikken Herrn Magister, warum ist er wohl so dick? Marzipan in Mengen ißt er, aus der Marzipanfabrik.“ Nach und nach fand der Stoff seinen Weg in die Welt, an den russischen Zarenhof wie auf mexikanische Haziendas. Noch traf er mancherorts allerdings auf Banausen: „Marzipan, durch den Lübeck berühmt ist, ist die unverdaulichste Substanz, die ich kenne, ausgenommen Glaserkitt und Bahnhofsbutterbrot“, urteilte 1895 ein früher Gastrokritiker in einer Chicagoer Zeitung. In Lübeck und Königsberg aber rührte man ungerührt weiter, formte Glücksschweine zu Neujahr, Hasen zu Ostern, Stadtansichten als Souvenir und kam allmählich ganzjährig ins Geschäft. Der Zweite Weltkrieg brach aus und endete wie bekannt. Viele Königsberger Konditoren flohen in den Westen, die zurückgebliebenen hatten sich um anderes zu kümmern als um abgeflämmte Torten. In Lübeck lagen Teile der Innenstadt in Schutt und Asche. Mit der Währungsreform 1948 aber wurden die Röstkessel wieder angeheizt. Und gingen nicht mehr aus. Heute exportieren Lübecker Firmen in über 40 Länder, da ist kein Tourist, der nicht ein süßes Eisbein oder lekkeres Holstentor nach Hause schleppte, eine junge Firma produziert mittlerweile auch Öko-Ware: Marzipan aus Mandeln und Honig, nicht gerade klassisch, aber ganz im Geist der Zeit. Die Ausstellung „Vom Fürstenkonfekt bis zur Konsumware“ in Lübeck ist bis zum 31. Januar, jeweils Dienstag bis Sonntag von 10 bis 16 Uhr geöffnet.
Um die Erfindung des Marzipans ranken sich viele Legenden. Eine Ausstellung in Lübeck zeigt, wie es wirklich war: Das Haremskonfekt | Archiv – Berliner Zeitung – Lesen Sie mehr auf:
http://www.berliner-zeitung.de/archiv/um-die-erfindung-des-marzipans-ranken-sich-viele-legenden–eine-ausstellung-in-luebeck-zeigt–wie-es-wirklich-war-das-haremskonfekt,10810590,9526294.html#plx1257974933
Quelle: Berliner Zeitung (Link)
Autor: Franz Lerchenmüller
Datum: 18.12.1998
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